“Hinweisschilder auf Orte des UNESCO-Weltnaturerbes in China und Russland”
Was wäre Deutschland ohne die heilige Haine der Germanen, den Baumkult der Nazis und das Waldsterben? Welcher trefflichere Ausdruck der amerikanischen Nation fände sich, als die grandiosen Panoramen des Yosemite Parks mit seinen breiten Tälern, unberührten Wäldern und wilden Felsformationen? Im Prozess der Nationswerdung spielten Naturlandschaften neben Flagge und Volksheld, eine tragende Rolle; sie verankerten das Nationalbewußtsein im Territorium (vgl. z.B. Ousby 1990, Diller und Scofidio 1994, Mandler 1999, Koshar 2000, Edensor 2002, Ely 2003).
Doch die eloquentesten Fürsprecher herausragender Landschaften sind heute keine nationalen Akteure, sondern globale Organisationen wie Unesco und Greenpeace. Sie sprechen uns als Bürger einer Welt an, appellieren an unsere gemeinsame Verantwortung für den Planeten. Eines ihrer erfolgreichsten Programme ist die 1972 von der Unesco initiierte Liste des Weltkultur- und Naturerbes, die 2004 788 „schützenswerte Stätten von universeller Bedeutung“ umfaßt — vom Taj Mahal bis zu den Galapagosinseln.
Die globozentristische Ausrichtung der Unesco trifft an den Stätten des Welterbes auf eine Industrie, die ebenfalls unter dem Codenamen „Völkerverständigung“ firmiert und deren Wachstumsrate mit jedem neuen Listeneintrag nach oben schnellt: dem Tourismus. Der wiederum durchläuft, hierzulande fast unbemerkt, selbst einen massiven Globalisierungschub, während dessen Staaten wie China, Indien und Rußland zu wichtigen Protagonisten aufsteigen.
Was aber geschieht mit Orten, nachdem sie zu „Schätzen der Welt“ ausgerufen wurden, nach dem Sprung von der Lokal- in die Globalliga? Steigen sie bei Reisenden und Einheimischen im Wert, wecken sie gar ein globales Bewußtsein oder werden ihre kulturellen Eigenarten durch internationale Konservierungsstandards und Massentourismus vielmehr nivelliert’
2 Orte [1].
Im Tal von Jiuzhaigou versteht man gleich, wieso 55% aller Betonimporte nach China gehen. 120 Hotels erheben sich vor dem Eingang des Naturschutzparks im Norden Sichuans, der seit 1992 zum Weltnaturerbe zählt. Außen im faux-tibetischen Tempelstil, flankiert von bunten Plastikpalmen, werden Reisende in der marmornen Lobby vom TibetoPop-Park-Jingle begrüßt, den sie zu diesem Zeitpunkt ihrer Reise schon mitsingen können, da er in der ganzen Provinz ertönt. Die Touristen sind zwar alle Chinesen, doch die Uhren an der Rezeption mit den Zeiten Pekings, New Yorks, Londons und Tokios verkünden Internationalität. Man schiebt sein Ticket durch die automatisierten Tore des Besucher- und Souvenirzentrums, fährt im Bus zum 40 km entfernten Endpunkt des Parks und läuft von dort auf breiten Holzplanken durch eine spektakuläre Landschaft schneebedeckter Berge, dichter Wälder und Seen, die durch wilde Kaskaden miteinander verbunden sind.
Auch die Goldenen Berge des Altai wurden in den 1990er Jahren zum Weltnaturerbe ernannt. Auf den ersten Blick könnten die Orte nicht ähnlicher sein. Wie Jiuzhaigou liegt die Tundra-, Berg- und Gletscherlandschaft des russischen Altai in einer dünnbesiedelten und unterentwickelten Region. Beide Bevölkerungen gehören zu Minderheiten, turkstämmige Altaier in Rußland, Tibetern und Qiang in der Volksrepublik, und lebten traditionellerweise vom Sammeln, der Jagd und Viehzucht. Zudem liegen beide Gebiete in ex-sozialistischen Staaten und wurden von ihren Regierungen als Tourismusziele identifiziert.
Aber hier enden die Übereinstimmungen. Denn während in Jiuzhaigou täglich bis zu 40.000 Touristen anreisen, kommen in Artybasch, dem Hauptort am Telezkojesee, von dem aus man ins Unesco-Gebiet gelangt, maximal 1000 Gäste in 10 hölzernen Ferienanlagen unter. Zum Naturpark gelangt man nach zweistündiger Motorbootfahrt durch eine einsame Seenlandschaft. In der kleinen Bucht liegen ein paar Schaschlikspieße auf dem Grill, ein Stand bietet Tee und Photos an. An einer Bretterbude lösen Besucher ihre Tickets und folgen einem Steg zum Wasserfall. Aber das war‘s dann auch schon, denn alle anderen Wanderungen sind genehmigungspflichtig und dauern mehrere Tage. Nur die wenigsten Touristen und Einheimischen haben von der Aufnahme des Altai in die Welterbenliste gehört, im krassen Gegenteil zu Jiuzhaigou, wo das Unesco-Logo Eintrittskarten, Hotelprospekte, Souvenirs und Stelen im altchinesischen Stil schmückt. Woher kommen diese Unterschiede’
Welterbe als Marketingtool.
Jiuzhaigou ist ein Paradebeispiel für den neuen chinesischen Turbotourismus. Existierte zu Maos Zeiten nicht mal die Kategorie „Tourist“, so öffnete Deng Xiaopings Politik der Reiseindustrie alle Türen; innerhalb der letzten Dekade wurden landesweit Straßen, Flughäfen, Hotels, Reisebüros und Reiserouten errichtet. Um die Nachfrage zu stimulieren verkürzte die Partei die Arbeitszeiten und gab ihren Bürgern drei Wochen bezahlten Urlaub. 2002 besuchten alleine in einer Ferienwoche 90 Millionen Chinesen Sehenswürdigkeiten im eigenen Land.
Massentourismus gilt als kostengünstige Entwicklungstrategie. Er soll arme Provinzen wirtschaftlich ankurbeln und ihre Bewohner, viele von ihnen ethnische Minderheiten, „zivilisieren“. In einem offiziellen Bericht heißt es: „Die moderne Kultur, die die Minderheiten durch Touristen aus den entwickelten Landesteilen kennenlernt, kann einen enormen Anreiz für veränderte Lebenstile, Konsumgewohnheiten und Werte bieten.“
Auf dem Reißbrett werden neue Sehenswürdigkeiten entwickelt. So identifzierte der Staat ein überschaubares Gebiet in einer völlig unerschlossenen Region, verpaßte ihm den Namen Jiuzhaigou, „Schlucht der 9 tibetischen Dörfer“ und schlug es der Unesco vor. Als Weltnaturerbe aufgenommen, finanzierte der Staat eine neue Straße, die die Anreise von der Provinzhauptstadt Chengdu von vier auf zwei Tage verkürzte. Hotels, Restaurants und Kulturzentren wurden ausgeschrieben und schnell erbaut, zählen Tourismusobjekte in China doch zu den beliebtesten Investitionen. Jüngst wurde noch ein Flughafen eröffnet und der ganze Bezirk werbeträchtig in Jiuzhaigou umbenannt. Eine Standardprozedur — wäre München im Reich der Mitte, würde es Oktoberfeststadt heißen. Der Einsatz der Unesco als Marketingtool ist völlig konsequent.
Wie aber passen 40.000 Touristen am Tag mit den Konservierungsidealen der Unesco zusammen? Vordergründig ziehen Unesco und Chinesen an einem Strang. Erklärte Strategie ersterer ist es, nicht gegen Tourismus, das Biest mit der bestenfalls ambivalenten Ökobilanz zu kämpfen, sondern gemeinsam mit ihm umweltverträgliche Standards zu erarbeiten. Die Chinesen wiederum haben einige Auflagen, wie die Schließung der kleinen Pensionen in den tibetischen Dörfern und die Errichtung einer parkeigenen Busflotte, erfüllt und feiern Jiuzhaigou als „Perle des Ökotourismus“.
Zugleich verfolgen beiden höchst unterschiedliche Ziele. Geht es der Unesco um den Schutz der Biodiversität, kann die chinesische Führung unterm Deckmantel der Ökologie viele, bei der Bevölkerung unpopuläre, Maßnahmen durchsetzen. So kamen das Verbot der lokalen Taxis und der tibetischen Privatunterkünfte dem Monopol der Tourismusinvestoren zugute. Jetzt will man auch die Tibeter selbst in Wohnblöcke außerhalb des Parks umsiedeln. „Sie verschmutzen die Umwelt“, versichert Xiao Ma, unser Reiseleiter, mit ernsthafter Miene. Dabei geht es vielmehr darum, die Tibeter ihrem magisch-religiösen Umfeld zu entreißen und dem nationalen Fortschrittsszenario einzuverleiben.
Aber auch den Touristen, überwiegend Han-Chinesen, sollen moderne Manieren beigebracht werden. Reiseleiter, Eintrittskarten und Schilder fordern sie auf, Müll zu trennen, Rauchen und Spucken zu unterlassen. Doch die Bürger vollziehen den gleichen Spagat zwischen Rhetorik und Praxis wie ihre Politiker. Eloquent loben Cindy und Wang aus Kanton die „nachhaltige Entwicklung“ im Park und schütten ihren gesamten Müll in den fein säuberlich mit „Papier“ beschrifteten Eimer.
Welterbe als Schutzmaßnahme.
Im Altai dagegen fungiert das Weltnaturerbesiegel als Schutzmaßnahme. Nicht der Staat stand hinter dem Unesco-Antrag, sondern die russische Sektion von Greenpeace. „Nach 1991 mußten wir kapitalistischen Raubrittern zuvorkommen, die sich an der Natur bereichern wollten. Die Natur ist das wichtigste Kapital unser indigenen Bevölkerung, Wirtschaft ist zweitranging.“ erklärt Wassilij Manyschew, vom Amt für Bodenschätze und Umweltschutz der Republik Altai. „Die Menschen sollen doch weiter Pinienkerne und Kräuter sammeln können.“ Man muß sich nur einfach vorstellen, diesen Satz aus dem Mund eines chinesischen Politikers zu hören und die Kluft zwischen beiden Diskursen wird greifbar.
Was Tourismus angeht, ist man ambivalent. Einerseits wurde er als zentrale Entwicklungsstrategie identifiziert, war das Altaigebirge auch schon zu Sowjetzeiten ein beliebtes Reiseziel. Doch nach deren Zusammenbruch zerfielen die Unterkünfte und die Gewerkschaften zahlen auch nicht mehr den Jahresurlaub. Für neue Strukturen fehlt wiederum das Geld. Und überhaupt hat man hier strenge Vorstellungen, welchen Tourismus man haben will. „Auf keinen Fall wie in Berchtesgaden“, sagt Manyschew. „Wo Leute einfach nur auf den Berg hinauffahren, frische Luft schnappen und dann wieder abziehen.“ Der Direktor des Naturparks am Telezkojesee ist sogar strikt gegen jede touristische Ausbeutung und untersagte den Dorfbewohnern Souvenirs mit dem Unesco-Logo herzustellten.
Das gleiche Mißtrauen gegenüber Kommerz zeigt sich auch im Umgang mit den Minderheiten. So wie zu jeder chinesischen Charterreise eine Kulturshow gehört, in der Minderheiten in bunten Kostümen frei erfundene Rituale vorführen — und erzählen, wie sehr sie die chinesische Nation lieben — könnte man die Altaier als schamanistisches Urvolk vermarkten und zum Kehlkopfgesang einladen. Aber nichts dergleichen geschieht. „Schamanismus ist doch nichts für eine Exkursion“, sagt Konstantin Perschin, Manager einer Ferienanlage. Für die Touristen, die einen schamanistischen Kult nachahmten und an Pässen bunte Stoffbänder an die Bäumen hängten, stellte man Schilder auf: „Wer nicht dran glaubt, verschone die Umwelt“.
Ökofundamentalisten unterhalten kleine Feriencamps in denen sie neue Umwelttechnologien testen — „für Menschen, die gute Luft, sauberes Wasser und die medizinischen Vorteile reinen Jakfleisches zu schätzen wissen“ schwärmt A.W. Ivanov, Initiator des Umwelt Ngo’s Altai 21st Century. Er propagiert nicht nur die Rückkehr zur Viehzucht sondern auch die eurasischen Philosophie, die während der Perestroika zu neuem Leben erwachte und in der russischen Kultur eine Synthese aus westlicher Rationalität und östlicher Spiritualität sieht, die Russen für die Lösung globaler Probleme prädestiniert.
Zentrale lokale Probleme scheinen dabei jedoch auf der Strecke zu bleiben. Denn das Heer der Arbeitslosen, die Männer, die schon vormittags volltrunken quer über der Dorfstraße liegen, haben keine der Natur vergleichbare Lobby. Die Wirtschaft liegt brach, 98% der Einkünfte der Republik kommen aus Moskau. So sind viele zum Überleben auf den illegalen Handel mit seltenen Pflanzen und Tieren angewiesen. „Arme Menschen sind keine Umweltschützer“ konstatiert Sergei Noshkin, außenpolitischer Berater des Gouverneurs der Provinz Altai, einer der wenigen, der eine offensive Wirtschaftspolitik vertritt. Für ihn ist das Ökopalaver nur eine Entschuldigung sich nicht den neuen Zeiten zu stellen und die Region für ausländische Investoren zu öffnen. Denn die gäbe es, keine 300 km entfernt — in China. Bislang verbindet jedoch nicht einmal eine Straße die Republik Altai mit der chinesischen Provinz Sinkiang. Ihr Bau scheitert am Protest der russischen Umweltschützer und populistischer Xenophobie. „Die Chinesen kommen, sie nehmen unsere Frauen, sie arbeiten viel und trinken nicht. Wir arbeiten nicht und trinken viel“ kommentiert Noshkin das Verhältnis.
Ironischerweise könnten sich jedoch sowohl der dynamische Ökonom Noshkin, als auch rückwärtsgewandte Ökofundis auf einen Enklaventourismus à la China einigen, abgezirkelte Sehenswürdigkeiten, zu denen Touristen tagsüber angekarrt werden. „Dann könnten die Hirsche und Bären wieder am Seeufer grasen“ schwärmt ein Zoologe, der seit 42 Jahren die lokale Tierwelt erforscht. Noshkin wiederum würde sogar die ganze Bevölkerung umsiedeln wollen. Aber dazu fehlen natürlich die politischen Mittel. Manchmal, so hat es den Anschein, fänden die Russen so ein totalitäres Regime wie es ihr Land in seiner letzten Inkarnation war und die Volksrepublik noch ist, ganz praktisch.
So jedoch wird in Rußland heftig über die Zukunft des Altai gestritten. In China dagegen hat der staatliche Fortschrittsdiskurs eine breite Basis. Ganze Dörfer reichen in den Tourismusbüros Portfolios und Petitionen ein, um als Touristendestinationen anerkannt zu werden und selbst die chinesischen Alternativtouristen sprechen vom Rucksacktourismus als „bestem Beweis für das Entwicklungsniveau einer Nation“ (Lin, 2002).
So unterschiedlich wie die Tourismusstrategien sind die Touristen selbst. Während die Chinesen ihren Tag in Jiuzhaigou damit verbringen ausgewählte Landschaftsansichten zu betrachten, die ihnen ihre Reiseleiterin erläutert, navigieren die Russen die Stromschnellen der großen sibirischen Flüsse. Laufen erstere einen halben Tag im Gänsemarsch auf Holzwegen von einem Busstop zum anderen und beschweren sich am Abend „Das war nun wirklich zu anstrengend“, wandern letztere wochenlang durchs Gebirge und verkünden „Guter Tourismus ist Sport“. Verfolgt man in China abends in der Kulturshow begeistert ethnische Hochzeitsrituale, bringt man in Rußland mit Birkenruten seine Durchblutung in Gang, schwitzt in der Sauna und springt anschließend in den eiskalten Fluß. Der russische Tourismus dreht sich um den Körper, der chinesische um den korrekten Blick.
Tourismus ist Sport.
Vorlieben, die sich weit in die Geschichte der beiden Länder zurückverfolgen lassen. Teilte die russische und europäische Elite anfangs die gleichen Reisekonventionen, so kristallisierte sich schon früh eine Trennung zwischen Erholung (otdych, отдых), in Form der bis heute beliebten therapeutischen Kuren, und Sport (turism, туризм) heraus. Die Anfänge des turism bilden die ab Mitte des 19. Jahrhunderts im ganzen Land gegründeten Wander- und Radfahrvereinen. Nach der Revolution wurde der sogenannte Amateurtourismus offiziell als Mittel gegen „a-politische Gesinnung, Opportunismus und Perversion“ gefördert. Man wanderte in kleinen Gruppen mit einem Anführer, schlief in Zelten oder rudimentären Ferienlagern (vgl. Gorsuch, 2003).
Ebenso wie noch heute Amateurtourismus, neukapitalistisch relaunched als Wildwasserrafting im Ural, Hundesafari auf dem Baikalsee und Fischen auf Sachalin, die russische Freizeitgestaltung dominiert, so hat sich auch dessen moralisch-erzieherische Bedeutung gehalten. Viele sind in den schulischen Tourismusclubs sozialisiert worden und regen sich über diejenigen auf, die ihre Ferientage mit ein bißchen rafting, trinken und saunen verbringen. „Bei Kindern und Ausländern würde man das ja verstehen“, sagt ein Endzwanzigjähriger, „aber bei Erwachsenen aus Barnaul? Das ist doch kein Tourismus.“ Gute Touristen dagegen stählern ihren Körper und Geist durch die Eroberung der Natur und nähern sich auf offiziellen Wanderrouten der höchsten Auszeichnung aus UdSsr-Zeiten, dem „Meister des Tourismus“.
Die Reinheit der Natur steht bei den Touristen hoch im Kurs. Lena, aus dem Kontingent der neuen Russen, berührt die Felsen am Wasserfall und schwärmt: „Diese Steine laden einen so mit Energie auf. Zwei Tage im Altai sind erholsamer als zwei Wochen Antalya.“ Und der breitschultrige Afghanistan-Veteran, lautstarkes Mitglied in Putins Partei, ruft aus: „Diese Schönheit ist unbesiegbar. Mann, ist das eine Natur!“. Erstaunlicherweise tragen beide wirklich nach dem Picknick selbst Pinienkernhülsen in Plastiktüten nach Hause.
Auf den Spuren der Gelehrten.
Stehen Holzpfade, Beschilderung und ausführliche Kommentare den russischen Touristen im Weg, da nur die rauhe Natur ihre volle erzieherische Wirkung ausüben kann, so sind diese für das chinesische Reiseideal unabdingbar. Denn der gute chinesische Tourist ist einer, der die kanonische Bedeutung von Sehenswürdigkeiten kennt und sie nachahmt. Prototouristen des alten China waren kaiserliche Beamte, Schriftgelehrte, die im Land umherreisten und die mingsheng, Sehenswürdigkeiten, besichtigten. Von jedem berühmten Ort, dem Tigerhügel in Suzhou oder dem Berg Emei, gab es eine festgelegte Anzahl berühmter Ansichten mit poetischen Namen wie „Herbstmond über Stillem See“, die in der topographischen Kunst seit dem 8. Jahrhundert entwickelt worden waren und im Laufe der Zeit eine Fülle religiöser und historischer Assoziationen angesammelt hatten (s. z. B. Strassberg, 1994).
Das diese Sehkonventionen die dramatischen Brüche des letzten Jahrhunderts in China überlebt haben, liegt vor allem an dem staatlich lancierten Revival traditioneller Kultur, in Zuge dessen mingsheng den Bürgern nicht nur auf Briefmarken und Parteibannern, sondern auch in tv-Shows und unzähligen Themenparks begegnen. Sich bewußt in diese Tradition einordnend, identifizierte die Parkverwaltung für die historisch unbeschriebene Landschaft Jiuzhaiguo eine Reihe obligatorischer Vistas, inklusive konkreter Gebrauchanweisungen: „Den See des schlafenden Drachen muß man zu drei Tageszeiten betrachten“ erläutert die Reiseleiterin, „im Morgengrauen, bei Sonnenuntergang und im Mondlicht.“
Diese traditionalisierenden Versatzstücke stehen jedoch im Dienst einer radikal zukunftsorientierten Botschaft. Sie lautet: China ist modern und mächtig, nach Jahrzehnten der Isolation und Rückständigkeit betritt es heute die Weltbühne als gleichberechtigter Spieler. Alleine schon die Existenz des neuen Tourismus gilt als Beweis dafür, nach dem Motto: Jede fortschrittliche Nation hat einen Massentourismus. Wenn Sehenswürdigkeiten dann auch noch Unesco-geprüft sind, ist das, so der Reisebüromanager Zhou Yimen, „der Beweis, daß unsere Kultur richtig alt ist.“
Schätze der Menschheit als soziokulturelles Labor.
Altai oder Jiuzhaigou, welche Stätte wird der globozentrischen Agenda der Unesco gerechter? Auf den ersten Blick möchte man meinen, daß, obwohl in China Globalität so demonstrativ zelebriert wird, Massentourismus und Umweltdiskurs von einer dicken Kulturschicht überlagert werden. Die im Altai anzutreffende Vorstellung von unberührter Natur als Tor zur körperlichen und geistigen Selbsterfahrung, erscheint dagegen universeller. Doch gehen wir da nicht unserer eigenen kulturellen Blindheit auf den Leim, lassen sich die russische und westeuropäische Tradition des Reisens und der Naturwahrnehmung auf die gleichen Wurzeln in der Romantik zurückführen, die lehrte, rauhe Natur als etwas Erhabenes anzusehen’
Letztendlich erweisen sich die “Schätze der Menschheit” in Rußland und China weniger als Vorreiter eines Globozentrismus, denn als Labor und Spiegel kultureller Praktiken und Ideologien, die die unterschiedlichen Traditionen, Entwicklungsvisionen und soziopolitischen Gefüge in den zwei postsozialistischen Staaten reflektieren. Im chinesischen Tourismus zu den Stätten des Welterbes verschmilzt die prämoderne Tradition der Gelehrtenreisen mit der monopolistischen Modernisierungsvision des Staates, in dessen Dienst auch die Unesco gestellt wird. In Russland wiederum, in Abwesenheit einer zentralistischen Staatsideologie, werden westliche, sowjetisch überformte Reisetraditionen dazu verwandt, partikularistische Interessen auszuhandeln. Bisher jedenfalls. Denn sollte die Macht des Putinschen Zentralstaats weiter zunehmen, könnten die maßgeblichen Kontrahenten, die nostalgischen Naturschützer und die Befürworter einer wirtschaftlichen Entwicklung nach chinesischem Vorbild, sich zusammenschließen um unbändige Touristen in disziplinierte, zahlende Zuschauer zu verwandeln.